Zauberspiegel für die Blinden

Erzählt von dem Holzschnitzer, Sigurd Olivier

Übersetzt durch Sanshia Kröner

Diese Geschichte ist den vielen fantastischen Straßenartisten gewidmet, die trotz der vielen bürokratischen Hürden Freude in die Welt bringen.

Gib acht, und hör gut zu. Wir betreten nun die Welt der Magie. Wenn Du an Wunder und unmögliche Dinge glaubst, dann wirst Du unsere Geschichte um so besser verstehen.
Die Herzkönigin aus Alice im Wunderland versicherte Alice, daß sie noch vor dem Frühstück an mindestens 6 zuvor unmöglich erscheinende Dinge glauben würde.

Vor langer Zeit bekam ich ein Holzschnitzmesser in meine Hände. Erst wußte ich ganz und gar nicht, was ich damit tun sollte, denn ich konnte absolut nicht holzschnitzen. Aber angetrieben durch eine geheime Kraft nahm ich ein Stück Holz, setzte meine Brille fest auf meine Nase, um alles besser sehen zu können, und begann zu schnitzen.

Während sich die Holzspäne in meinem Schoß sammelten, sah ich erstaunt, wie ein kleines Männchen langsam Gestalt annahm. Meine Aufregung wuchs.... ich schnitzte und schnitzte. Ich arbeitete wie ein Besessener. Endlich, nach vielen Monaten kam aus einem magischen Wirbel von Nebel eine Figur zum Vorschein - ich selbst! Ja sicher. Natürlich nicht völlig ich selbst, aber eine perfekte Miniaturausgabe von mir selbst. Das kleine Männchen war ca. einen halben Meter groß. Das einzige Problem war, daß absolut kein Funken Leben in ihm war. Ich wußte wirklich nicht, was ich tun sollte. Bis mir plötzlich der Ausdruck einfiel: „Leben in etwas hauchen.”

Nun, dachte ich bei mir selbst, das kann ich dann ja einfach mal ausprobieren und sehen, was dann passiert. Ich pustete und pustete aus aller Kraft.

Wer kann sich da mein Erstaunen vorstellen, als die bisher leblose Holzpuppe in Bewegung kam. Erst bewegte sich Eines seiner Beine, dann das Andere, dann ein Arm usw. Bis sie vollständig zum Leben erwachte.

Wenn ich euch erzähle, daß ich mein eigenes Ebenbild geschaffen habe, will das noch lange nicht heißen, daß der kleine Boss nicht völlig seinen eigenen Charakter hat. Ich gebe gerne zu, daß mein Ebenbild mit Eigenschaften gesegnet war, die mich vor Neid grün werden ließen. Er war ordentlich gekleidet mit einer bordeaux-roten Robe, so wie ein Musketier. Auf seinem Kopf hatte er einen Zylinder. Schon an seinem selbstbewußten Auftreten konnte man sehen daß er verrückt nach Frauen war. Aber da war noch etwas Besonderes an diesem Herrn: er hatte Tiefgang.

Um seine Lippen spielte ein Lächeln, kein zynisches Lächeln, vielmehr ein Zweideutiges. Das kam weil ein Mundwinkel hoch und der Andere nach unten wies. Wenn seine Augen - von denen ich erst später bemerkte, daß sie sich wie Laserstrahlen auf ein Ziel richten konnten - sich entspannten, sah er sehr abwesend aus, als ob er irgendwo tief in sich selbst auf Reisen war.

„ Hallo. Ich bin König Sigurd.”

„Was!” rief ich verblüfft. Das Männchen hatte gesprochen.

„Wie geht es Dir? Ich bin König Sigurd,” sagte er.

„Aber, aber,... ich bin Sigurd,” sagte ich, denn so heiße ich.

„Ja, ja, ich weiß. Du bist Sigurd und ich bin König Sigurd.”

„König Sigurd!” Ich war total überrumpelt. „Dann bin ich wahrhaftig befreundet mit einem echten König?”

„Und noch etwas, warum veränderst du nicht etwas an deinem Äusseren? Kleide dich auch mehr so wie ein König.”

„Aber, ich bin kein König,” protestierte ich.

„Wir sind allemal Könige. Das wirst du noch begreifen,” versicherte er verheißungsvoll.

Ich protestierte nicht weiter und schlug das prächtig kaminroten Cape um mich und setzte den Zylinder auf, die beide auf mysteriöse Weise hinter mir zum Vorschein gekommen waren.

„Genau,” sagte der kleine König Sigurd, und es klang wie ein königlicher Beschluß, „und wird es jetzt nicht langsam Zeit, daß wir lernen zusammen zu arbeiten?”

„Aber Majestät, ich bin voll und ganz bereit, mit Ihnen zu arbeiten.”

„Das ist einfacher gesagt als getan. Üben, mein Junge, üben. Ich bin eine Marionette und du mußt lernen die Fäden zu hantieren.”

Da erst bemerkte ich es: Er hing an 1,2,3... na so circa 15 Fäden. „Da werde ich bestimmt noch oft ein Durcheinander bekommen,” sagte ich.

„Genau, das meinte ich, du mußt also üben.”

„Gut, gut. Aber können sie bitte etwas Geduld mit mir haben?”

Es war nicht einfach. Ich muß den armen, alten König wirklich bunt und adelig blau geschlagen haben. Ich nehme ihm dann seine extremen Wutanfälle auch nicht weiter übel. In seiner Verzweiflung rief er: „Musik! Wir brauchen Musik.”

„Musik? Wozu brauchen wir Musik?” fragte ich.

„Um zu tanzen, Trottel. Etwas anderes hilft nicht.”

Und wirklich, Seine Majestät hatte recht; als wir Musik hatten, bekam alles mehr Schwung und der kleine König Sigurd erstaunte mich, als er anfing, ein Lied zu singen:

Weißt du schon, daß ich dich liebe
Auch wenn es nicht immer so erscheint
Ich finde es oft so schwierig, zu sagen was ich fühle
Aber du weißt sicher, was ich meine.


Ich sang mit und nach einer Weile waren wir am swingen wie ein gut geübtes Showbizzduo.

*****

Ich soll um Himmelswillen nicht wissen, was mich dazu brachte die folgende Figur zu schnitzen. Ich habe wohl so meine Vermutung, daß die Natur die Dinge von selbst im Gleichgewicht hält. Also bereite Dich mal vor auf die Begegnung mit dem völligem Gegenteil von dem König.

Was da nach vielen Stunden des Schnitzens zum Vorschein kam, war eine zo häpliche Person, wie du sie dir schlimmer nicht vorstellen kannst. Das Männchen hatte einen Holzstumpf, eine zertrümmerte Hand und einen jämmerlichen Hundeblick voll Selbstmitleid.

Als ob das noch nicht genug war. Meine Hände und mein Schnitzmesser versahen ihn auch noch mit einer Art Schandblock. Während ich noch überlegte, ob ich ihm Leben einhauchen sollte, erschreckte ich von einer Stimme dicht neben meinem Ohr.

„Genau richtig!”

Ich schaute hoch und neben mir stand, ganz besonders ruhig, König Sigurd, fast so wie ein stolzer Vater.

„Geht’s dir noch gut? Es ist eine Mißgeburt!” protestierte ich.

„Du übertreibst ganz schön,” sagte er. „Also, sollen wir?” weisend auf dessen Ohr.

Mit schwerem Herzen bog ich mich nach vorne und begann zu pusten. Es war keine einfache Geburt. Widerstrebend kam er zu sich. Aber endlich, da erklang ein Aufschrei von Entzetzen, der mit jeder Ankunft hier auf Erden verbunden ist.

„Aaaeeeiiiioooouuuuuuuuuwwww!!!!!!”

Der König strahlte. „Willkommen, willkommen Victimus Ultimus.”

„Was? W- Was? Wie nanntest du ihn?” stammelte ich.

„Victimus Ultimus.”

Worauf das einzigartige Schlachtopfer uns mit Ausrufen plagte so als: „Ich Armer. Niemand liebt mich. Das Ende ist nahe.”

Eines Tages, als der König in seinem Liegestuhl fast am Schlafen war, erzählte ich Victimus, daß seine Probleme nicht real sind.

„Wenn du wirklich willst, kannst du davon loskommen!” Ich schnippte mit meinen Fingern. „Aber ich vermute, daß du dich dabei wohlfühlst in ihnen zu schwelgen.”

Zur Verdeutlichung sang ich das folgende Lied:

Ohne Probleme gehst du tot
Sie sind dein Wasser und dein Brot
Du kannst night leben ohne sie, ohne sie
Du machst sie schwierig und gerne groß

Ich sang es ein paar Mal, damit es gut zu ihm durchdrang und, du wirst es nicht glauben, sein Holzbein begann im Rhythmus mitzuticken.

„Du wirst noch deinen Spaß daran haben,” bemerkte ich. Er schaute mich unangenehm berührt an. Verschwörerisch flüsterte ich: „Es ist gut, du schlauer alter Fuchs. Ich werde es niemandem erzählen. Anders sitzt du in den Nesseln. Hier bist du in Sicherheit.” Er rülpste enorm, als wollte er meinen Worten Kraft verleihen. „Und wenn du jammerst, bekommst du Symphatie und Aufmerksamkeit, und manchmal sogar was Süßes. Aber denke daran Victimus,” warnte ich ihn, „wenn du weiterhin Schlachtopfer spielst wirst du es eines Tages auch sein. Du wirst noch fremd aus der Wäsche gucken, wenn du jemandem begegnen wirst, der nicht bereit ist dein Spiel mitzuspielen. Wir sind zu sanft zu dir.”

Er zuckte nur mit seinen Schultern. Ich drehte ihm meinen Rücken zu und erblickte König Sigurd in seinem Liegestuhl. Ich schlenterte zu ihm.

„Ich mache mir Sorgen um Victimus Ultimus,” sagte ich. „Ihm geschieht noch mal ein Unglück. Soll ich dir was sagen? Er ist abhängig von seinen Problemen.”

„Das ist nichts besonderes. Beinah jeder ist von irgendetwas abhängig.” Er schob seinen Hut zurück, schaute mich auf seine intensive Weise an und sagte dann langsam und nachdrücklich: „Es verlangt Mut, ohne Probleme zu leben.”

Da mußte ich eben drüber nachdenken. Danach kam ich zurück auf das Thema Victimus.

“Ich habe so eine Vorahnung, daß ein Unglück geschehen wird. Es wird etwas passieren. Etwas ganz scheußliches...”

*****

Später am Abend saßen wir zu dritt und schauten uns die Nachrichten auf dem Unglückssender an. Victimus alberte über die Nachrichtensprecherin, Miss Quote, eine aufgetakelte dumme Blondine, die vorgab, halb so jung zu sein, wie sie in Wirklichkeit war.

„Ich bin Miss Quote, und bringe ihnen die Neuigkeiten auf Kanaal 13: im Norden herrscht Krieg, im Süden Hungersnot, im Osten gibt es Unglücke, und im Westen herrscht die Korruption. Und jetzt, Nachrichten aus der Umgebung: die Regierung hat strengere Maßnahmen angekündigt bezüglich der Aushändigung von Bewilligungen jeglicher Art. Der Minister von Bewilligungen sagte: ,Bürokratie geht über alles. Es macht nichts aus, was es auch kosten wird. Als jemand sich sogar herausnimmt, ohne Erlaubnis zu atmen, werden wir ihn strafrechtlich verfolgen.’ Inspekteure sind in diesem Moment damit beschäftig, Gesetzesbrecher aufzuspüren...”

Genau in diesem Augenblick hörte ich Lärm draußen. Mein Herz stand still. Mein Vorgefühl...

Miss Quote war dabei, die Nachrichten zu beenden mit dem Wetterbericht: „Nach jedem Sonnenstrahl wird wieder saurer Regen fallen.”

Und wer kam da um die Ecke? Niemand anders dann Mr. Smother! Victimus drehte sich um, um zu sehen, wer da war und schrie erschrocken auf.

„Aaaaarrrggghhh!”

Das Individium sah so angsteinjagend aus, daß selbst stillende Mütter bewußtlos wurden, als sie ihn sahen. Scharen von Zugvögeln verloren ihren Orientierungssinn und prallten aufeinander, um dann leblos auf die Erde zu fallen.

Mr. Smother hatte einen mißgebildeten Kopf als Folge einer verfrühten Geburt mit Komplikationen. Auf diesem Kopf wuchs eine mausgraue Kokosmatte mit einem Scheitel in der Mitte. Schiefstehende Blumenkohlohren trugen noch bei an diesem mißglücktem Ganzen, ebenso die tiefliegenden Augen, eines davon blutunterlaufen und halb so groß wie das andere.

Die Nase, so groß wie der Bug eines Kriegsschiffes, war entzündet und fleckig und saß voll mit Pusteln und Warzen. Seine dünnen Lippen waren so mißmutig nach unten gezogen, daß sie unter seinem Kinn erst wieder zum Vorschein kamen. An seiner Unterlippe hing ein Zigarettenstummel felsenfest, festgeklebt durch getrockneten Speichel. Sein Nacken saß, solange er sich zumindest nicht auf Kriegspfad befand, eingezogen zwischen seinen Schultern, so wie bei einer Schildkröte.

Mr. Smother hatte einen graugestreiften Anzug an mit einer Doppelreihe Knöpfen. Er trug ihn so wie eine Uniform mit einem verkehrten Oberhemd und einem schreienden Schlips. Seine Stiefel waren wie geschaffen um über Dich wegzuwalzen.

Ein offizieller Stempel bildete das Verlängerungsstück seines rechten Armes, mit dem er um sich wirbelte, als ob es ein Totschläger war.

Ich werde Dir das Trauerlied von seinem Leben singen:

Wer sitzt nicht früher oder später
In den Fängen der Bürokratie
Der Fehltritt seines Vaters und seiner Mutter
Der Dummkopf der Nation.

Und hier begann Smother selbst mitzusingen, während er mit seinem Stempel schlug:

Stempel, stempel hier
Stempel, mehr Papier
Stempel, Formular
Stempel, was für ein Gewühl.

Als Victimus seine Stimme teilweise wieder fand, schaffte er es zu piepsen: „Wer, wer bist du?”

„Smother! Mr.Smother! Und wenn hier auch nur ein Funken Freude herrscht, dann weißt du was ich damit tue, oder etwa nicht?”

„N-Nee,” sagte Victimus.

„Ich werde sie unterdrücken. Und, von jetzt an stell ich hier die Fragen. Um zu beginnen: hast du alle notwendigen Bewilligungen?”

„Bewilligungen wofür?”

„Nun, z.B., eine Bewilligung um in diesem Apparat zu sitzen.”

„Ich wußte nicht, daß ich dafür eine Bewilligung brauche, um in diesem Schandblock zu sitzen.”

„Du brauchst für alles eine Bewilligung.”

„Um Gottes Willen, ich- ich dachte, daß ich hier sicher wäre,” stammelte Victimus.

„Du Schmarotzer, du Parasit! Nirgendwo bist du sicher, jetzt wo wir dich und Deinesgleichen zu packen kriegen. Mein Boss, der Minister für Bewilligungen, ein gewisser Mr. Flaccid, hat eine deutliche Warnung ausgesprochen an Schmarotzer und er hat mich angestellt, um definitief mit euch abzurechnen. Vergiß nicht, von jetzt an brauchst du für alles eine Bewilligung, was du auch tust. Und alle benötigten Formulare müssen in fünffacher Kopie ausgefüllt werden.”

Von Victimus war inzwischen nicht mehr als ein klägliches Wrak übrig. Obwohl er bis jetzt von seinem Elend genießen konnte, ging ihm das doch ein bischen zu weit. Dieses Elend brachte ihm Nichts.

Smother straffte seinen Schildkrötennacken und sein Kopf schoß empor, wie ein Sehrohr auf der Suche nach dem Feind.

„Nun, schauen wir mal, was wir hier noch mehr finden können.”

Seine durchstechenden Augen schossen von links nach rechts, als sein Blick mit Zufriedenheit auf eine sich ausruhende Figur in einem Liegestuhl fiel: deutlich noch ein Schmarotzer.

„Und was soll das hier?” fragte er mit boshafter Stimme. „Hat der Herr Probleme, um in der Reihe zu stehen und ein paar Formulare auszufüllen? He, sag mal, du da, Freundchen, mit deinen schönen Kleidern. Ich meine dich, Herrschaft.”

An dem Gejammer von Victimus konnte ich hören, daß seine Welt einstürzte. Falls der Unterdrücker auf diese Weise den König anfiel, dann bedeutete das, daß Ende der Welt. Oder etwa doch nicht?

König Sigurd räkelte sich in seinem Liegestuhl. Er gähnte und kam in aller Ruhe hoch. Was dann weiter geschah war sehr merkwürdig. Er begann direkt auf seinem Platz zu dribbeln, so wie die Hochspringer das tun, und dann bevor man es vermuten konnte, nahm er Anlauf und rannte direkt auf Smother zu. Er sprang hoch in die Luft, während er eine Art Kriegsschrei von sich gab: “Yiiiiyakkatakkaboooom!” und landete in seinem vollen Ornat dicht vor dem Tyrann. Aber es waren die Augen von Seiner Majestät durch die der Unterdrücker sich beinah die Hosen voll machte; sie glühten wie heiße Kohlen!

Durch den König total überrumpelt wich Smother zurück. „Eh, oh, tja, eh, ja. Mittagessen mit dem Minister. Ich muß weg." Und er floh mit eingekniffenem Schwanz davon.

*****

Das Leben ging wieder seinen normalen Gang. Na ja, beinah. Ich war wieder am Holzschnitzen, König Sigurd saß gemütlich in seinem Liegestuhl, Victimus war leise am Stöhnen.

„Ich bin kein glückliches Schlachtopfer mehr," jammerte er. „Ich wollt, ich wüßte wie ich solchen Grobianen wie dem Smother gewachsen wäre.”

Ich hatte Mitleid mit ihm, und in gewisser Weise gab ich mir selbst die Schuld an seinem Dilemma. Dadurch, daß wir sein leidendes Verhalten toleriert hatten, hatten wir ihn behütet vor der harten Wirklichkeit, mit der er früher oder später doch konfrontiert werden würde.

„Aber ich weiß es einfach nicht,” sagte er mit einem dünnen Stimmchen. „Was tust du, wenn du nicht weißt was du tun sollst?”

Es klang wie eine ernste Frage von Victimus, also legte ich mein Holzschnitzmesser nieder. „Dann höre ich auf meine innere Stimme, mein Schutzengel,” sagte ich.

„Habe ich auch eine innere Stimme?” fragte er.

„Eines Tages wirst du sie hören.”

„Nun, ich hoffe, daß mein Schutzengel kommt und mich leiten wird,” sagte er. „Ich werde Mr. Smother mit meinem Holzfuß gegen sein Schienenbein treten . Das hat er verdient.”

„Ich weiß ganz sicher, daß sie kommt,” antwortete ich.

„Was schnitzt du da? fragte er.

„Ich weiß es noch nicht genau. Ich lasse meine Hände die Arbeit tun. Sollen wir ihr Leben einpusten und sehen was passiert?”

Genau in diesem Augenblick kam König Sigurd von seinem Liegestuhl auf uns zu, um zu sehen, was wir taten. Victimus wurde ganz aufgeregt und rief: „Ja, lassen wir ihr Leben einpusten. Laß mich das tun. Gib her.”

Ich hielt das Holz gegen Victimus’ Lippen, und auf meine Anweisungen hin, pustete er in ein Ohr. König Sigurd und ich feuerten ihn an. Es wurde dunkler und plötzlich waren Victimus' Hände leer. Wir hörten ein flötendes Geräusch und aus einem magischen Nebel kam ein fliegender Teppich auf uns zu mit einer gutartigen Hexe darauf.

„Laß mich eben etwas ganz wichtiges erzählen über Hexen," sagte König Sigurd. „Vor sehr langer Zeit waren alle Hexen gute Hexen. Es waren weise Frauen. Das ist das, was das Wort ,Hexe’ bedeutet: weise Frau. Später kamen dann auch schlechte Hexen dazu, aber du kannst sie ganz leicht erkennen, denn sie fliegen auf Besenstielen, wohingegen gute Hexen auf Zauberteppichen umherfliegen.”

Victimus saß da mit offenem Mund, deutlich beeindruckt von der Erscheinung dieser freundlich aussehenden Frau, mit ihren hellen blau-grauen Augen. Sie war alles in allem genommen kein verschrumpeltes Wesen mit einer Hakennase. Eher das Gegenteil.

„Bist du- Bist du zufällig mein Schutzengel?”

Die gute Hexe lächelte ihn an. „Nee, aber wenn du es fein findest, kann ich ihren Platz einnehmen bis sie kommt. Aber nur zeitlich, verstehst du?”

„Oh, hipp hipp hurra! Denn weißt du, ich höre noch immer keine innere Stimme,” sagte er.

“Wie heißen sie?”

„Ich bin die Weise Yin-Yin.”

„Nun, da du doch mein Schutzengel bist, kannst du mir da nicht helfen, den gemeinen Menschen Smother von seinem Platz zu verweisen?”

„Die Lösung deiner Probleme ist ganz nahe. Laß mich dir etwas
erzählen.” Die Weise Yin-Yin begann ein Lied zu singen:

Es kam einmal ein Mann in eine groß Stadt
Es kam einmal ein Mann in eine große Stadt
Was kommst du hier tun in der großen Stadt?
Was kommst du hier tun in der großen Stadt?

Bei den letzten Worten zeigte sie auf König Sigurd, der antwortete:

„Spiegel machen für die Blinden.”

„Was?” riefen wir alle zu gleicher Zeit.

„Spiegel machen für die Blinden.”

Hier begann der König den Refrain zu singen.

Und wenn sie in den Spiegel schauen
Dann sind die Blinden froh
Denn dann können sie wieder sehen, und entdecken obendrein noch
Daß sie König sind.

Wenn du einmal dahinter kommst, wer du wirklich bist
Dann bist du für immer frei.

In diesem Moment erschien da wie aus dem Nichts ein Zauberspiegel, ein prächtiger goldener Spiegel mit einer Krone obendrauf und besetzt mit Juwelen. Er tanzte in seinen kleinen Schuhen und öffnete seine Arme, als ob er uns umarmen wollte.

Spiegel aus Gold und Juwelen
Enthüllen wer du bist
Ja, klarer reiner Spiegel
Enthullen wer du bist.

„Aber wie können Blinde denn in einen Spiegel schauen, wenn sie nicht sehen können?” fragte ich.

„Nicht die blinden Blinden,” verdeutlichte König Sigurd, „aber die Menschen sind blind um sehen zu können, daß sie einen inneren König haben. Wir sind alle Könige oder Königinnen, oder bei Kindern, Prinzen und Prinzessinen. Es ist nur eine Frage des Erkennens..”

„Und was dann?” Victimus schaute skeptisch.

„Was dann? Mit Sicherheit was dann!” donnerte Seine Majestät. „Dann, mein lieber Victimus, wirst du immun sein gegen die Drohungen von Mr. Smother.”

„Wird mir das den Mut geben, den Fießling gegen sein Schienbein zu treten mit meinem Holzfuß?” fragte Victimus.

König Sigurd seufzste. „Wenn du das willst.”

„Oh Himmel!” rief er aufgeregt aus.

„Aber ich meine eine innerliche Revolution, nicht eine äußerliche Rebellion.” Er murmelte sich noch in seinen Bart. „Und nun,” er wandte sich lächelnd an Victimus, „nun bist du dran, alter Freund. Die Metamorphose steht kurz vorm Durchbruch-”

Er stoppte plötzlich, als er Tränen in den Augen unseres Freundes sah. „Was ist denn? Was ist denn los?”

Und wirklich, in Victimus hatte eine große Veränderung stattgefunden.„Oh buhuhu. Buhuhu.”

„Was ist denn, Victimus? Was ist denn?” fragte ich. „Da stehst du kurz davor die größte Veränderung deines Lebens mitzumachen, und dann brichst du in Tränen aus. Was ist denn?”

„Das ist es ja nun gerade,” schniefte er. „Nun muß ich meine kostbare Schandblock verlassen und auch die Sicherheit meiner vertrauten Welt. Buhu. Buhuhu.”

Ich warf iritiert meine Arme in die Luft, aber die gute Hexe, die Weise Yin-Yin, zeigte mehr Verständnis. Sie schlug ihre Arme um ihn. „Ach, kleiner, lieber alter Victimus. Ich weiß was du durchmachst. Es ist alles nicht so einfach.”

“Allein ein kleines bißchen mehr Zeit um von meiner geliebten Schandblock genießen zu können. Oh, njam, njam,njam. Liebe kostbare Schandblock...”

Ich rollte meine Augen gen Himmel. Junge, Junge, das war ein Meister seiner Art. Und doch, wie ich nun an sechs zuvor unmöglichen Dingen vor dem Frühstück glaubte, so als prophezeit, warum dann nicht auch an sieben?

Der König versuchte, ihm etwas deutlich zu machen: „Du brauchst deinen - ehem - ‘kostbaren Schandblock’ wie du ihn nennst, nicht zu verlassen. Ich habe dir gesagt, was geschieht, wenn du deinen innerlichen König wiederfindest. Du wirst lernen, DICH SELBST ZU LIEBEN SO WIE DU BIST...

*****

Im selben Moment saß Mr. Smother voll bösartiger Vorfreude unter seinem fahlen Neonlicht in seinem kahlen Kantor in einem schäbigen, nichtssagendem Reichsgebäude.

„Ich werde sie vernichten, ich leg ihnen die Daumenschrauben an, ich werde sie in Öl kochen! Sie haben nicht die geringste Ahnung, daß ich jedes Wort von ihren Plänen abgehört habe. Und wenn ich den Minister warne, bekomme ich sicher eine Beförderung.

„Ich werde ihm sagen: ,Mr. Flaccid, wir müssen nun etwas unternehmen, um diesen Aufständigen Einhalt zu gebieten, oder wir werden, ehe wir es uns versehen vor einem Armageddon stehen. Sie sind dabei, den Geist von Victimus zu befreien. Wenn wir dies ungestraft zulassen, ist das der Anfang vom Ende. Jederman wird dann in der Reihe stehen, um einen Blick in dem Zauberspiegel auf sich selbst werfen zu wollen. Bevor man es weiß wird die graue Masse seine Stimme gefunden haben! Das wird das Ende unserer Macht über sie bedeuten. Vernichte das drohende Feuer oder es ist aus mit unserer Herrschaft!’ werde ich dem Minister sagen...”

*****

Yin-Yin kam mit einer halsbrechenden Geschwindigkeit angerast und kaum gestoppt rief sie aus: “Schnell! Schnell! Beeilt euch. Sie kommen. Es scheint so, daß es eine ganze Armee ist, an der Spitze ein sehr böser Smother.”

Als ob es noch nicht schlimm genug war, suchte sich Victimus diesen Moment aus, um in Koma zu fallen. Ich meine damit, daß er zusammenbrach, es nicht mehr aushielt. Ich vermute, daß die Spannung zu groß für ihn geworden war, und im Grund meines Herzens konnte ich ihm das nicht übel nehmen.

„Victimus ist übergeschnappt,” vermeldete ich schwach.

König Sigurd tat so, als ob er mich nicht gehört hatte. Er stellte sich gerade vor Victimus hin und donnerte im Tonfall eines Erzbischofs: „Victimus Ultimus. Hör gut zu. Du bist die Sonne hinter der Sonne, der Mond hinter dem Mond. Für dich ist nun die Zeit gekommen, deinen inneren König wiederzuentdecken.”

„Eure Majestät, er kann sie überhaupt nicht hören,” flüsterte ich.

Er beachtete mich nicht, richte sich stattdessen zu seiner vollen kaiserlichen Höhe auf und sammelte alle Energie zusammen; seine Augen begannen zu glühen wie heiße Kohlen, heller und heller, bis sie die Qualität von Laserstrahlen erreichten, die er danach auf Victimus richtete. Der arme Kerl kroch in sich zusammen, als ob er durch einen Blitz getroffen wäre. Er war nun vollkommen anwesend.

Wie aus dem Nichts - so schien es - materialisierte König Sigurd nun den prächtigen Zauberspiegel, umrandet mit kostbaren Juwelen, führte ihn dicht zu Victimus und sagte: „Victimus Ultimus, schau in den Zauberspiegel.”

„Nee. Nee. Ich bin zu ängstig dazu.”

„Du kannst es, Victimus Ultimus,” sagte Seine Majestät.

„Dies ist für tapferere Männer wie mich. Nee. Nee. Ich kann es nicht.”

Yin-Yin war dicht hinter ihm gekommen, schlug einen Arm um ihn und hielt seine gute Hand bekräftigend fest.

„Victimus, ich bin hier, ich helfe dir. Du bist stark und du kannst es.”

„Ich habe echt Angst, weißt du.”

Aber ich konnte hören, daß die Spannung in seiner Stimme etwas weniger geworden war. Ich lief herum zu seiner anderen Seite und drückte seinen gesunden Fuß. Das schien ihn noch etwas sicherer zu machen.

„Gut,” sagte er etwas fester, „ich bin soweit. Ich wage den Sprung.”

Mit einer sicheren Gebärde drehte er seinen Kopf zum Zauberspiegel von König Sigurd und schaute hinein.

„Sprich mir nach,” instruierte König Sigurd. „Ich bin die Sonne hinter der Sonne-”

„Ich bin die Sonne hinter der Sonne.”

„Ich bin der Mond hinter dem Mond.”

„Ich bin der Mond hinter dem Mond.”

„Victimus, w a s--s i e h s t--d u?”

„Ich sehe- Ich sehe-”

„Was, Victimus! Was siehst du?” fragte ich.

„Ich sehe- Ich sehe ein königliches Schlachtopfer.” Und unser alter Freund hob seinen Kopf so hoch er konnte in seinem Schandblock.

In diesem Moment schoß Mr. Smother aus der Dunkelheit nach vorne, seine Gefolgschaft im Schlepptau. In einem Sprung flüchtete der Zauberspiegel auf seinen kleinen Füßen davon und wurde von der Dunkelheit verschluckt.

„Auf frischer Tat ertappt, siehst du wohl!” brüllte Mr. Smother.

„Ich weiß nicht wovon du sprichst,” sagte Seine Majestät.

„Das weißt du nicht, was? Du hast doch die Zeremonie mit dem Zauberspiegel durchgeführt, oder etwa nicht?”

„Was für ein Zauberspiegel? Es gibt hier absolut im Umkreis von 1000 Meilen keinen Zauberspiegel. Sieht hier jemand einen Zauberspiegel?” fragte er in blinder Unschuld.

Smother entschloß sich ein leichteres Opfer zu suchen und schritt gebieterisch auf Victimus zu. Er schaute ihn drohend an und brüllte: „Du da, Wurm! Gestehe. Du bist beteiligt gewesen bei einer rituellen Tat ohne Bewilligung, angeführt durch den geldgierigen Guru und einer Hexe. Kann es noch Schlimmeres geben? Du weißt, daß ich dich dafür einsperren lassen und den Schlüssel dann wegwerfen kann, oder weißt du das etwa nicht?”

Victimus begann zu beben und ich war bang, daß die Zeremonie mit dem Zauberspiegel nicht seine gewünschte Wirkung gehabt hatte. Yin-Yin unterstützte ihn und flüsterte in sein Ohr: „Victimus, erkenne wer du bist. Du bist ein König. Du hast die Macht, diesem Abfalleimer entgegenzutreten.”

Victimus wurde sich seiner Macht bewußt. Sein Vertrauen wuchs sichtbar. Es erschien ein erstaunter Blick auf dem Gesicht von Smother. Er glaubte nicht, was er da sah. Victimus explodierte so wie ein Vulkan durch seine trockene Krusten hindurchbricht.

„Nun mußt du mir mal gut zuhören, du elendiger Mistkerl!” schrie Victimus, „weißt du eigentlich, gegen wen du hier sprichst? Ich bin-” Und er begann zu singen:

Ich bin die Sonne hinter der Sonne
Ich bin die Sonne...
Ich bin die Sonne hinter der Sonne
Ich bin der Mond...
Ich bin der Mond hinter dem Mond
Ich bin der Mond...
Ich bin der Mond hinter dem Mond
Ich bin die Sonne...

Wir sangen alle zugleich mit: „Du bist die Sonne hinter der Sonne...” Eine Gänsehaut kroch über meinen Rücken. Selten hat ein Sieg süßer geschmeckt. Dann nahm Victimus seine Arme hoch, um uns zum Schweigen zu bringen.

„Kommen sie einen Schritt näher, Mr. Smother? Ich habe ein kleines Geschenk für sie.”

Smother kam nach vorne und stand aufrecht vor Victimus.

„Und wo ist das Geschenk, wovon du sprichst?” erkundigte er sich.

„Hier,” sagte Victimus. Er hob sein Holzbein ganz hoch und ließ es dann hart auf Smothers Zehen niedersausen.

„Aauuuweeeeeeeeeee!” schrie Smother.

„Und wage es nicht, mich jemals wieder zu stören in meiner kostbaren Zwangsjacke, hörst du? Oder ich soll meinen Holzstumpf als Stampfapparat benutzen und dich zu Mus mahlen.”

„Hurra Victimus! Gut gemacht alter Junge. Du bist fantastich,” jauchzten wir alle.

Während Victimus seine Arme in einer Geste des Triumphs hochnahm, schlich Smother vor Schmerz gekrümmt, völlig geschlagen mit eingekniffenem Schwanz davon.

Und das ist das Ende von unserer Geschichte.

„Nee, nee, mein Lieber. Nicht echt. Das ist erst der Anfang,” rief Yin-Yin. „Weist du, jedes Ende bedeutet auch einen Anfang.”

„Das verstehe ich nicht,” sagte ich.

„Sicher, dies war der Anfang von einem neuen Abenteuer,” sagte König Sigurd. „Nun machen wir uns bereit für eine lange Reise.”

„Warum?”

„Um soviel Menschen wie möglich die Chance zu geben, in den Zauberspiegel zu schauen und transformiert zu werden.”

„Junge Junge, das wird spannend,” rief ich aus. „Hörst du das, Victimus?”

„Ja”

„Nun, was hältst du davon? Kommst du mit uns mit?”

„Ja. Aber nur solange ich meinen kostbaren Schandblock mitnehmen darf, und alle meine Probleme, die ich will.”

„Aber natürlich, natürlich,” versicherte König Sigurd ihm.

„Wo genau gehen wir hin?” informierte ich mich.

„Nirgendwohin,” antwortete Yin-Yin.

„Nirgendwohin? Du sprichtst in Rätseln. Eine Reise ins Nirgendwohin?”

„Wir sind allemal auf einer Reise ins Nirgendwo,” sagte Seine Majestät mit plagender Stimme, und er begann zu singen:

Wo wir hingehen
Das ist ins Nirgendwo
Darum lassen wir
Alle Regeln
Und Bräuche auch sausen
Und sagen ihnen lebewohl
Um von der Freiheit des Lebens
Zu genießen...

ENDE